hören und sehen.
In der Geschichte der Oper gibt es die verschiedensten Formen von Opern, entwickelt von Komponisten angefangen von Cavalieri über Gluck bis zu Nono, Aperghis und Scarrino. Anders als zum Beispiel die Sonate oder die Sinfonie lassen sich diese Formen kaum standardisieren: die Oper hat in ihrer Geschichte keine einheitliche oder fixe Form ausgebildet, sondern sich immer weiterentwickelt. Trotzdem könnte man sagen, daß es sich in der Geschichte der Oper wie in einer großen Familie verhält deren Mitglieder gewisse Familienähnlichkeiten aufweisen: Manche habe gleiche Ohren, manche gleiche Nasen, manche gleiche Lippen etc. Es gibt keine zwei Gestalten die in jeder Hinsicht gleich sind, man kann keinen fixen Typus festlegen. Allerdings finden sich Einzelmerkmale die sich unterschiedlich verändert haben und die immer wieder verschieden rekombiniert wurden. Die Geschichte der Oper ist also eine Geschichte der ständigen kontinuierlichen Weiterentwicklung und Veränderung. Und gerade dadurch ist ja die westliche Musiktradition als Ganzes gekennzeichnet: Tradition ist ständige Veränderung. (Ein schmerzlicher Bruch mit dieser Tradition des Kreativen wurde im 20. Jahrhundert vollzogen in dem sich die großen Musikinstitutionen von den Gebärkliniken des Neuen in Balsamierungs- und Mumifizierungsanstalten verwandelt haben.) Und genau in dieser Tradition der Veränderung sehe ich meine Arbeit als einen kleinen Schritt in diesem kontinuierlichen Prozeß. Wie die Komponisten der Vergangenheit so sehe ich es als meine künstlerische Aufgabe heutige, zeitgemäße Formen von Oper zu suchen und zu entwickeln. Das, was man als eine ganz zentrale Gemeinsamkeit von allen diesen verschiedenen Formen von Oper (von Tanz- und Musiktheater) bezeichnen kann ist die Tatsache, daß verschiedene Kunstsparten zusammenwirken, um einen gemeinsamen Erlebnisraum zu schaffen, und genau das ist der Aspekt von Musiktheater der mich als Komponist am meisten fasziniert: diese Konfrontation mit anderen Kunstformen, mit Raum, Licht, Literatur und Bewegung von Menschen als Figuren auf der Bühne. Dabei ist es wichtig zu sehen, daß dieses Konzept von „Gesamtkunstwerk“ immer schon eine Selbstverständlichkeit in der Kunst und Kultur aller Völker aller Zeiten war. Es gibt wohl kein Ritual oder Fest etc. weder weltlich noch geistlich, dessen künstlerische Gestalt nicht gerade darin bestanden hätte diese verschiedenen Kunstformen miteinander zu verknüpfen und zu verbinden: Eine Kombination aus verschiedenen Kunstformen ist ja global und historisch gesehen der Normalfall, wohingegen das westliche Konzept von Konzert oder Museum eine Ausnahmesituation darstellt. Der Aspekt von Oper, der für mich am wichtigsten ist, ist nicht das Erzählen einer Geschichte, nicht das psychologische Erforschen der Sonn- oder Schattenseiten der menschlichen Psyche. Ich sehe Kunst auch nicht als Rätselaufgabe in der man mit rationalen Mitteln versucht Botschaften zu dechiffrieren die Künstler im Prozeß der Arbeit chiffriert haben, sondern ich sehe Kunst als eine Chance in eine andere Zeit, in einen anderen Raum einzutreten, in einen Raum intensiver Zeiterfahrung und großer sinnlicher Fülle, in dem der intuitiven Wahrnehmung das Primat gebührt. Was mich als Komponist interessiert ist das Schaffen von multidimensionalen sinnlichen Erfahrungsräumen, in denen man sich in einem Zustand des intensiven Wahrnehmens dem Erlebnis von Zeit, Klang, Raum, Licht und Bewegung öffnen kann. Aus der Parallelität von einfachen Mitteln entsteht in der gegenseitigen Beleuchtung oder Vertiefung der verschiedenen tief gestaffelten Wahrnehmungsebenen eine komplexe Mehrschichtigkeit. Und gerade dieser direkte mehrschichtige Eindruck, die Tiefe und Fülle von in diesem Augenblick gesungenem oder gespieltem Klang, von Personen auf der Bühne, von von Licht getroffenen realen Materialien, die Fülle im realen Raum ist die eigentliche Stärke von Oper. Es ist diese große Qualität des „direkt“ und nicht über elektronische Übertragungsmedien vermittelten oder gefilterten Wahrgenommenen die die Oper von allen über elektronische Medien hergestellten Kunstformen (wie z.B.: Film oder Tonaufnahmen) unterscheidet. In einer Welt die beherrscht ist von der allgegenwärtigen, oberflächlichen und rastlos hektischen Berieselungsflut von flachen Information kann Oper ein Ort sein, an dem dieser Flut ein Raum und eine Zeit von konzentrierter Dichte entgegengestellt wird. Zusammen mit den anderen beteiligten Künstlern stelle ich als Komponist diesen offenen Raum der Fülle her. Ich möchte niemanden belehren, ich habe keine Botschaften zu übermitteln.
Ich teile meine Freude am Hören und Sehen.