wie saß cavallieri?
„The fire is at its last click, I am sitting with my back to it with one foot rather askew upon the rug and the other with the heel a little elevated from the carpet…These are trifles – but…could I see the same thing done of any great man long since dead it would be a great delight: as to know what position Shakespeare sat when he began „To be or not to be.“ (John Keats, Letters, S. 223)
Genauso wie Keats könnten wir uns fragen, wie denn Shakespeares Zeitgenosse Cavallieri saß, als er sich eine andere gewissermaßen noch grundlegendere Dimension unserer Existenz zum Thema machte, indem er „il tempo“, die Zeit erfand? Denn erst durch diese Idee der Zeit kann es Begriffe wie „Vergängliches“ und „Tod“, „sein“ und „nicht sein“ geben.
So wie Keats sich auf Shakespeare und wir uns auf Cavallieri beziehen, bezieht sich Kunst immer auf ihre eigene Geschichte. Eigentlich gibt es nur eine Hand voll von Grundproblemen und Grundfragen, die die Kunst jeder Zeit für sich neu formuliert und um deren Lösungen und Antworten sie ringt, auch indem sie sich auf die Kunstgeschichte bezieht oder versucht sich von bestimmten Aspekten der Geschichte abzugrenzen. Große Kunst ist immer eine kreative Auseinandersetzung mit Geschichte, nicht ein fundamentalistisches Nachbeten von Regeln. Das geistlose Befolgen von Regeln ist immer ein Zeichen von Angst und Mittelmäßigkeit, genauso wie der kindisch-pubertäre Bruch von Regeln als Selbstzweck. Regeln versuchen den „Geist“ von Kunst, einen eigentlich unfaßbaren Gehalt in eine faßbare Form zu bringen, sie sind immer nur Wegweiser, immer nur Hinweistafeln (deshalb ist es auch so absurd zu sehen wie diese Schilder verehrt werden und nicht das, worauf sie eigentlich weisen). Regeln weisen eigentlich – in einem scheinbaren Paradox – einen Weg zur Freiheit. Diejenigen, welche Regeln mißverstehen, indem sie sie in Gesetze zur „Pflege“ der Tradition verwandeln, sind eigentlich die, die diese Tradition, die sie bewahren wollen verlassen. Der orthodoxe Fundamentalist ist derjenige, der mit der Tradition bricht, indem er versucht einen lebendigen Prozeß zu einem bestimmten Zeitpunkt „einzufrieren“. „Als man den Ropschitzer Zaddik, einen der großen Schüler des Sehers von Lublin, fragte: ‚Warum lebst du nicht nach der Weise deines Lehrers?‘, sagte er: ‚Im Gegenteil, ich folge ihm durchaus; so wie er seinen Lehrer verlassen hat, so verließ ich ihn.‘“ (Gerschom Scholem)
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So wie Cavalieri sich auf die Antike bezieht, beziehe ich mich in der Cavallieri-Bearbeitung, wie in vielen meiner Arbeiten auf Kompositionstechniken der Renaissance (kanonisch-kontrapunktische Techniken, Zahlenproportionen, ein Stimmungssystem von Francisco de Salinas, Raumklang (cori spezzati der venzianischen Schule), Figuration, Diminuition, etc.)
Der Bezug zwischen den Akten und den Intermedien wird sowohl durch die Anwendung von Kompositionstechniken der Renaissance, als auch durch das Ableiten beziehungsweise Übernehmen von konkreten zeitlich-formalen Strukturen aus der rappresentatione hergestellt. Die Intermedien sind zeitlich gestauchte Spiegelungen der Akte, die formale Struktur wurde dabei genau übernommen, die konkrete Klanggestalt neu komponiert, wobei auch das gesamte Klangmaterial der Intermedien das gleiche ist, das auch der rappresentatione zugrunde liegt: diatonische Skalen mit den Zentraltönen G und D.
Aber, und das ist der entscheidende Punkt: So wie Cavalieri die Antike für seine Zeit fruchtbar gemacht hat wird in „fulgur harmoniae.“ versucht nicht einfach die äußeren Formen zu kopieren, sondern das gleiche Material anders zu hören, anders zu sehen, aus einer anderen Perspektive: mit den Ohren und dem Bewußtsein von heute.
Das, was man eine neue wissenschaftliche oder künstlerische Erkenntnis nennt ist nichts anderes als ein Wechsel der Sichtweise: Seit tausenden von Jahren arbeiten die Musiker mit dem gleichen äußerst einfachen Grundmaterial: der Luft und der Schwingung ihrer Moleküle. Doch auf wie unendlich viele verschiedene Weisen, welche unendlichen Räume kann man in ein bißchen schwingender Luft entdecken, wenn man nur lange genug sucht.
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Kunst ist, ob gewollt oder nicht ein Spiegel des Weltbildes ihrer Zeit, das wiederum ein Resultat der Geschichte ist. Wir können nicht so komponieren wie vor hundert Jahren, weil wir in einer anderen Welt leben und die Welt ganz anders sehen. Die rappresentatione ist ein zutiefst ideologisches, wenn nicht gar propagandistisches Stück, aus einer Zeit großer geistiger Umbrüche, in der jedes Stückchen geistiger Freiheit mit Blut und Asche erkauft werden mußte von einer herrschenden Religion die meinte (und immer noch meint) im Besitz der einzigen heilbringenden Wahrheit zu sein. Wie verhält Kunst sich heute dazu, in einer Zeit die ebenso gespalten ist, in Fundamentalismus einerseits und der Erfahrung einer Wirklichkeit mit tausenden Fragen und keinen endgültigen Antworten?
Kunst darf niemals in die Falle gehen einer Ideologie einfach mit einer entgegengesetzten zu begegnen, sie darf auch nicht zu einem Eskapismus in eine geordnete, geregelte und heile Welt werden: Sie muß im Gegenteil einen Geist des Fragens und des Suchens aufrecht erhalten, ihre Aufgabe kann es nicht sein Antworten zu geben, sondern sie muß ganz im Gegenteil immer wieder aufs neue Fragen stellen. Kunst kann und muß uns durch Fragen öffnen, sie darf unseren Geist nicht durch vermeintliche Lösungen schließen oder uns in einen dumpfen benebelnden Rausch forttragen. Kunst ist auch nicht Philosophie, sie stellt Fragen nicht in der Form rationaler Analyse. Sie kann uns aber ein intuitives Erleben eines Zustandes großer innerer Wachheit und Offenheit ermöglichen. In diesem Zustand des Fließens zu verbleiben und die Schönheit dieses beständigen Wandels erfahrbar zu machen – vielleicht ist das die wichtigste Rolle von Kunst in dieser heutigen Welt.
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„If the doors of perception were cleansed, every thing would appear to man as it is: Infinite.
For man has closed himself up, till he sees all things thro‘ narrow chinks of his cavern.“
(William Blake, Marriage of heaven and hell, plate 14)