sehen ohne augen – zum hörtheater der handschuh des immanuel.

„Vermutlich gibt es nur wenige Werke, die der von ihrem Schöpfer verkündeten ästhetischen Doktrin voll entsprechen. In der Regel geraten Kunstwerke in komplizierte Bezüge zu den rein ästhetischen Idealen ihres Autors. Sie beschränken sich nicht auf sie, da die künstlerische Struktur immer reicher als das ihr zugrundeliegende theoretische Schema ist.“ (Andrej Tarkowskij)

A theater ohne drama.
*
Wie in „königin ök“ geht es nicht um Geschichten oder Personen, sondern um Zustände, nicht um sich zuspitzende Kämpfe zwischen Gegensätzen, sondern um die Parallelität und Gleichzeitigkeit von Verschiedenem. Der Hauptunterschied besteht darin, daß in „der handschuh des immanuel“ Musik nicht nur sie selbst sein soll, sondern gleichzeitgig auch den Raum darstellt: Musik spielt eine Rolle. Sichtbares wird zu Hörbarem und dadurch in gewissem Sinne Räumliches zu Zeitlichem, denn eigentlich ist räumliches Hören nichts anderes als Hören von Zeitdifferenzen. Raum wird in der Zeit entfaltet und erst durch Zeit HÖRbar: Der auf einen Blick übersehbare Raum wird zu Bewegung in der Zeit. Der Vorgang ist also umgekehrt als gewöhnlich: wir übersetzen immer Zeit in Raum (z.B. der Weg der Zeiger auf dem Ziffernblatt der Uhren) der Versuch von „der handschuh des immanuel“ ist es Raum in Zeit zu übersetzen. Das Paradoxe daran ist nun, daß das was eigentlich am stärksten dem optischen Bereich zugeordnet wird, nämlich der Raum, der zentrale Punkt dieses Hörtheaters ist. „der handschuh des immanuel“ will keine szenische Musik sein, sondern musikalische Szene.
B china ohne kaiser.
*
Der Aachener Dom ist als zentraler Teil der ehemaligen Kaiserpfalz architektonischer Raum gewordene Staatsideologie und religiöses Weltbild aus dem 8.JH. Der Kaiser ist Vermittler zwischen christlichem Gott und den Menschen; er vereinigt die Funktion des Hohepriesters und des absoluten Herrschers in einem theokratischen fundamentalistischen Staat und herrscht nach dem Vorbild des alttestamentarischen, tyrannischen Gottes. Das Oktogon als Verbindung des Kreises (Symbol des Göttlichen) mit dem Quadrat (Symbol des Menschlichen) steht als Symbol für die Funktion des Kaisers in seiner Person beide Bereiche zu verbinden.
*
Wie in einer chinesischen Schachtel entsteht im Oktogon ein utopischer Gegenraum aus Klang, ein Raum der Asymmetrie und Fließen dem statischen, monumentalen realen Raum entgegensetzt. In der Zeit werden die beiden Räume hörbar gemacht und entfaltet, indem jedem der Räume eine musikalische Schicht entspricht, wobei sich das Material der Oktogon-Schicht auf die Musik um 800 bezieht, sich also auf die pythagoräischen Intervalle, auf den gregorianischen Choral und einfache Quintorgana beschränkt, mit strengen ritualhaften Zeitproportionen arbeitet und Texte aus den alttestamentarischen Psalmen verwendet. Der utopische Raum bleibt nur hörend erfahrbar und in der Zeit ohne sichtbare Spuren vergehend. Das Material sind zarte Flächen aus Geräuschen und Teiltonstrukturen. Den Texten der Psalmen entspricht die Sprachlosigkeit und das Schweigen.
*
Die beiden Räume lagern sich über- oder ineinander ohne in einen dramatischen Konflikt zu geraten. Auch wenn ein neuer Raum in den alten gesetzt wird, so bleibt der alte im Hintergrund als Basis auf der alles Neue beruht und von der es sich abgrenzt erhalten, andererseits wird auch das Bestehende nur durch das Neue wieder bewußt gemacht und durch das andere Licht auch verändert.
C sinn ohne bedeutung.
*
Beide Räume sind einfach, klar und reduziert, in diesem Sinne auch abstract, allerdings mit zwei grundsätzlich verschiedenen Intentionen.
a
„Schönheit ist das Strahlen der Wahrheit.“ (Augustinus)
Dieses Augustinus-Zitat wurde sehr gerne von Mies van der Rohe gebraucht, der immer an der Idee einer dem äußeren Erscheinungsbild zugrundeliegenden und dieses transzendierenden Essenz festhielt. Ein Gedanke der die ganze europäische Kunsttradition durchzieht und dessen frühe Frucht auch das Oktogon des Aachener Domes ist. Im Oktogon herrscht Klarheit um der Hintergrundstruktur willen; das Bauwerk macht die Struktur der Zahlen und der Geometrie sichtbar, welche wiederum als Symbol der kosmischen Ordnung fungiert. Alle intellegible Schönheit wird nur Abbild oder Abglanz der dahinter- oder zugrundeliegenden göttlichen Schönheit aufgefaßt. Die abstrakte Struktur dieser Schönheit kann ausgedrückt werden durch Zahlen und Zahlenproportionen welche die ewiggültigen und unveränderlichen Gesetze denen alles unterliegt darstellen. Die Zahl sechs ist nach Augustinus nicht deshalb die Zahl der Vollkommenheit, weil Gott die Welt in sechs Tagen geschaffen hat, sondern umgekehrt: Gott hat die Welt in sechs Tagen geschaffen, weil die Zahl acht vollkommen ist. Das Gebäude ist selbst Manifestation dieses „Gesetzesdenkens“. Alles verweist auf etwas oder erfüllt seine ihm zugeschriebene Funktion im durch gottgegebene Gesetze geordneten Ganzen. Das Einzelne wird Teil des Ganzen und löst sich in seiner Hierarchie auf. Eng verknüpft mit dieser religiös-kosmologischen Bedeutung steht natürlich auch die real-politische: Das Modell der himmlischen Hierarchie wird als Vorbild auch für die Herrschaftsstruktur auf dieser Welt gesehen.
b
„No illusions, no illusions.“ (Donald Judd). „Zu keiner Zeit sollen Illusionen aufkommen.“ (Zen-koan)
Eine andere Tradition von Abstraction gibt es in japanischer vom Buddhismus beeinflußter Kunst und im amerikanischen Minimalismus. Ein wesentlicher Gedanke des Mahayana-Buddhismus der speziell im japanischen Zen-buddhismus ausgeprägt wurde ist der, daß das Transzendente das Konkrete ist, daß kein Gegenstand auf etwas Transzendentes verweist, weil alles das Transzendente in sich trägt, weil alles Konkrete das Transzendente ist. Es gibt also keinerlei hierarchische Ordnung, denn jeder Gegenstand ist gleichwertig. Alles soll so wahrgenommen werden wie es ist, nicht als etwas das auf etwas anderes verweist: Der leere Kreis verweist auf nichts, ist nur er selbst, kann nicht analysiert werden. Indem er auf nichts verweist kann er eine Überwindung der Distanz zwischen Betrachter und Betrachtetem erreichen, denn Distanz entsteht durch Interpretation und Analyse, also durch die Suche nach Verweisen. Frank Stella: „My painting, is based on the fact that only what can be seen is there. It`s really an object (…) What you see is what you see.“ Zabalbeascoa und Marcos schreiben über die „minimal art“ der 60er Jahre: „The work could be immediately grasped in its entirety. All there was to see in objects was their actual presence. Anybody could understand them at first sight.“ Abstraktion kann also auch gesehen werden als Versuch Objekte möglichst von aller Bedeutung zu befreien. Sie dienen keinem Zweck auch nicht dem auf etwas anderes zu verweisen. Sie stehen nur für sich, sie sind frei. „The ordering isn’t rationalist or essential, just simple ordering, such as continuity, one thing behind another.“ (Donald Judd) Der neue Hör-Raum ist in diesem Sinne abstract und reduziert und nicht um eine symbolisch bedeutungsschwangere Struktur hörbar zu machen. Er ist Utopie nicht als Gegenentwurf zum karolingischen Staats- und Weltbild im Sinne einer anderen Utopie, sondern viel radikaler: Die Utopie des Hörraumes besteht darin zu sein ohne zu repräsentieren, denn der Wert alles Existierenden liegt in seiner Existenz und nicht in seiner Funktion.
konstanz ohne konstanz
*
Man hat in den Zahlen das unvergänglich Ewige gefunden geglaubt: Sichtbarer Ausdruck ist Stein als quasi unvergängliches Medium. Im Gegensatz zu Stein ist Klang extrem vergänglich, ist geradezu eine Versinnbildlichung der Vergänglichkeit. Doch, ist nicht gerade das ständige Vergehen das eigentlich Unvergängliche?