berge. träume.

Schnee im März

1.
Wege auf Berge Viele Heiligtümer wurden auf Bergen errichtet. Um zu ihnen zu gelangen mußten oft künstliche Wege geschaffen werden, meist in Form von Treppen. Die Treppe ist ein elementares Beispiel für den Akt der Abstraktion von der Natur: aus der unregelmäßigen, natürlichen Beschaffenheit des Berges wird eine einfache, klare geometrische Form abgeleitet. Das Grundprinzip der Treppe ist außerdem das klassischeste aller Kunst- und Formprinzipien, nämlich das der Wiederholung. Das Prinzip der Wiederholung ist als solches auch ein abstraktes Kunstprinzip, denn exacte Wiederholung gibt es nicht in der Natur. Ständiges Wiederholen kann man auch als eine Form der Gleichzeitigkeit von Stillstand und Bewegung sehen: Scheinbar verändert sich nichts, alles ist immer nur die gleiche minimale Bewegung, doch irgendwann erreicht man plötzlich den Gipfel des Taishan.

2.
Abstraktion und Geräusch
Was die Entwicklung des Verhältnisses des Abstrakten zum Konkreten betrifft, entfaltet sich die Musikgeschichte nach dem Mittelalter in eine der Kunstgeschichte genau entgegengesetzte Richtung. Die bildende Kunst hat in der Renaissance einen Höhepunkt an Realitätsnähe, ein Maximum an Naturalismus erreicht, sie schafft mit Hilfe der neu entwickelten Techniken (z.B.: Perspektive) ein perfektes Abbild der Realität, wie sie uns erscheint. In den Mittelpunkt wird dabei der Mensch gestellt. Am Ende des Mittelalters und zu Beginn der Renaissance erreicht die Musik dagegen in der Polyphonie der Niederländisch-römischen Schule die Stufe maximaler Abstraktion: hochkomplexe, abstrakte, auf Zahlenproportionen beruhende Kompositionen, die nur eine Klangfarbe (Männer- und Knabenstimmen) kennen entstehen. Diese geistlichen Werke die Göttliches und nicht den Menschen zum Zentrum haben sind ein Höhepunkt des Abstrakten in der Musik, des Abstrakten auch im Sinne des nicht affektgeladenen, nicht rhetorischen. Während die bildende Kunst sich in einem langsamen Prozess immer weiter von der Abbildung der konkreten Natur entfernt hat und zu Beginn des 20. Jahrhunderts durch Mondrian und andere die Schwelle zur reinen Abstraktion überschritten wurde entwickelte sich die Musik in die genau entgegengesetzte Richtung. Während und nach der Renaissance wird das Göttliche als Zentrum langsam verdrängt von Subjektiv-menschlichem. Parallel dazu wird das Spektrum der Klangfarben immer mehr erweitert. Teils über den Weg des Exotismus (z.B.: Janitscharenmusik) oder den des Illustrativ-programmatischen (z.B.: Donnerblech) etablieren sich langsam auch reine Geräuschinstrumente. Während also zu Beginn des 20. Jahrhunderts in der Bildenden Kunst eine rein abstrakte Kunst entsteht, erreicht die Musik in etwa zur gleichen Zeit einen Zustand in dem sich das Geräusch, das der „natürlichen“ Umwelt entnommene Klangereignis emanzipiert hat („intona rumori“, „musique concrete“).
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In der Kunst würde ich als abstrakt dasjenige definieren, das nicht versucht Natürliches oder Reales abzubilden, das möglichst versucht Assoziationen mit der Natur nicht aufkommen zu lassen. Einfachheit und Klarheit sind meist Charakteristika des Abstrakten. Im Reich des Klingenden könnte man das Rauschen als das Musterbeispiel des Natürlichen, des Umweltklanges betrachten, den instrumentalen Ton mit seiner einfachen, periodischen Schwingungsform als das Muster des Naturfernen. Denn es gibt in der Natur nichts, das sowohl dem Klangeindruck als auch der physikalischen Struktur nach zum Beispiel einem Klavierton vergleichbar wäre, auch ruft ein Klavierton keine Assoziationen an irgendwelche Naturphänomene hervor. Andererseits löst jedes Geräusch, wie abstrakt es auch immer gedacht oder produziert sein mag immer Assoziationen an Umweltgeräusche (Meeres-, Waldesrauschen etc.) aus. Wie beim Bleigießen werden in amorphe Strukturen, auch dann, wenn sie zufällig entstanden sind fast immer automatisch konkrete Bilder projiziert. Auch asiatische Kunstformen wie zum Beispiel die Tuschmalerei oder die Shakuhachi-flötenmusik gehen zwar an den Rand der Abstraktion, sind aber immer als Abbildung der Natur gedacht und geschaffen worden. Geräusche tragen immer die konkrete Welt in die ursprünglich abstrakte musikalische Struktur. Fast unweigerlich wird geräuschhafte Musik durch die sich einstellenden Assoziationen unfreiwillig illustrativ, sie wird zur Darstellung der Geräuschkulisse unserer Welt. Das einzige, das ohne Naturassoziation bleibt ist die reine geometrische Form und der klare geräuschfreie instrumentale oder vokale Ton. Die klarste formale Struktur aber ist die Wiederholung.
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Bleibt also die Schönheit der Berge unerreichbar oder können wir nicht gerade durch die Betrachtung der klaren Grundformen in uns die Essenz der Berge empfinden?

3.
berge.träume.
Berge sind über Jahrtausende gewachsen und wachsen immer noch weiter, Millimeter um Millimeter. Auch ihre Majestät und Gewalt sind nicht unveränderlich, sie sind flüchtig wie Träume.